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"Aufklärung jetzt"


Der eloquente Harvard-Professor Steven Pinker hat ein vielbeachtetes Buch geschrieben. Der Titel „Enlightenment now“ beinhaltet vollumfänglich seine innere Mission. Herr Pinker sieht sich als Wissenschaftler, der die Menschen durch eine Neuauflage der Aufklärung aus dem Dunkel ihrer irrationalen Ängste in´s heilbringende Licht der Erkenntnis führen will.

Doch letztlich versucht er, einen Glaubenssatz mit falschen oder ungenauen Daten zu belegen. Zudem flüchtet er sich in eine nukleare Utopie und verspricht seinen Jüngern unbegrenzte Energie für Tausende von Jahren.


eine aggressive "Schlüsselidee"

Im 40-seitigen Umweltkapitel – nur das soll hier besprochen werden - stellt er seine „Schlüsselidee“ vor. Sie besteht darin, „dass Umweltprobleme, genau wie andere Probleme, lösbar sind, wenn man über das dazu erforderliche Wissen verfügt“.

Herr Pinker vertritt seine Schlüsselidee mit einiger Vehemenz. Er setzt den „Optimismus der Aufklärung“ dem „Untergangsprophetismus der Romantik“ entgegen. Er spart dabei nicht mit zynischen Verunglimpfungen anders Denkender. 

Der "Grünismus" wird als destruktive, fortschrittsfeindliche Schwarzseher-Bewegung beschrieben. Auch der Papst bekommt als Aktivist sein Fett weg. Doch dazu fühlt sich Pinker durch sein Wissen legitimiert. Er präsentiert eine umfassende Datengrundlage, um seinen wissenschaftlichen Anspruch zu untermauern. Im Buch finden sich 68 Seiten Fußnoten und 60 Seiten Quellenangaben. Das macht Eindruck. Auch auf die Medien.


eine trügerische Beruhigungspille

Die Botschaft des Herrn Pinker ist an sich sehr schön. Sie strahlt vor Optimismus und verspricht Machbarkeit. Viele von uns werden sie erleichtert annehmen. Wir brauchen den Angstmachern nicht mehr zu glauben. Bevor wir uns aber endgültig zurücklehnen, müssen wir noch überprüfen, ob alles tatsächlich so „wahr“ beziehungsweise so „beweisbar“ ist, wie Herr Pinker es behauptet. Für diese Überprüfung bedarf es mehr als der puren Ehrfurcht vor 60 Seiten Quellenangaben.


der Versuch, einen Glaubenssatz zu beweisen

Das Grundsätzliche zuerst: Pinkers Schlüsselidee ("Alle Probeme sind lösbar, wenn wir über das entsprechende Wissen verfügen") ist ein klassischer Glaubenssatz. Das wäre an sich nicht schlimm. Doch Steven Pinker scheint seinen Glaubenssatz für eine wissenschaftliche, aufklärerische Hypothese zu halten.

Die einzige Eigenschaft, die eine wissenschaftliche Hypothese aufweisen muss bzw. müsste, ist die grundsätzliche Möglichkeit, sie widerlegen zu können. Der Satz „Es gibt einen Gott“ ist beispielsweise keine wissenschaftlich untersuchbare Hypothese, weil er nicht widerlegt werden kann. Man kann daran glauben oder auch nicht. Es macht keinen Sinn, diese Frage wissenschaftlich zu untersuchen. Steven Pinker stimmt der Forderung nach grundsätzlich möglicher Widerlegbarkeit zu (Seite 180 der deutschen Ausgabe Satz 2). Er muss sich also auch selbst daran messen lassen. 

Seine „Schlüsselidee“ (s.o.) ist angesichts des Wörtchens „wenn“ und angesichts eines undefinierten bzw. unbegrenzten Zeithorizontes grundsätzlich nicht widerlegbar. Jeder etwaige Widerspruch ließe sich einfach entkräften durch den Verweis auf die vielleicht schon morgen verfügbare Problemlösung. Pinkers "Schlüsselidee" ist ein unüberprüfbares Versprechen in die Zukunft. Mit der gleichen Berechtigung könnte er behaupten, Gott höchstpersönlich werde irgendwann alle Probleme lösen.

Herr Pinker versucht im Weiteren, seinen Glaubenssatz – die "Schlüsselidee" - mit Daten zu beweisen. Das ist an sich ein hoffnungsloses Unterfangen. Aber die Daten selbst könnten spannend sein. Welche Themen sind am wichtigsten? Wo steigen wir ein?

Artensterben  und Erderwärmung gelten als die derzeit bedrohlichsten Entwicklungen (8,9,14).  Teilt Herr Pinker die Sorgen einer großen Wissenschaftsgemeinde oder sieht er auch darin nur lösbare oder bereits gelöste Probleme? Haben wir seiner Ansicht nach schon das „erforderliche Wissen“? Wir schauen nach. Zusätzlich überprüfen wir seine Aussagen zur „ökologischen Kuznetkurve“ und zur Vorhersage der Entwicklung der Weltbevölkerung.  


Artensterben


falsche Daten

Zunächst zum Artensterben: Herr Pinker widmet diesem Thema immerhin eine ganze Seite (0,14%) seines Buches. Er zitiert einen Ökologen und hält das Thema dadurch für weitgehend erledigt:

„Laut dem Ökologen Stuart Pimm wurde die gesamt Aussterberate um 75% gesenkt“ 

So einfach ist das? Alle Aufregung umsonst? Nach einem Moment des Erstaunens schauen wir in die zugehörige Fußnote 31. Die Aussage von Stuart Pimm bezieht Pinker leider nicht aus Pimms Forschungsarbeit sondern aus dem Guardian. Wir finden zudem einen Hinweis auf einen Time-Artikel, der wiederum ein Zitat des WWF und des Global Tiger Forum enthalten soll. Immerhin finden sich auch einige Science-Artikel. 

Diese Grafik stammt aus einem dieser Science-Artikel (4).  Um Pinkers wissenschaftliche Seriosität zu prüfen, müssen wir genau hinsehen.

Die Y-Achse zeigt den Red-List-Index. Ein absteigender Trend des Red-List-Index zeigt eine zunehmende Bedrohung der jeweiligen Tiergruppe.

Wir sehen, dass es mit den Amphibien am schnellsten abwärts geht (beachte die y-Skalen), gefolgt von den Säugetieren und den Vögeln. Die schwarze Linie zeigt die tatsächliche Entwicklung, die rote Linie zeigt die Schätzung, wie es ohne aktiven Artenschutz gegangen wäre. Der graue Bereich zeigt die statistische Unsicherheit. Wir sehen zumindest bei den Vögeln einen eindeutigen Effekt des Artenschutzes. Insgesamt ist dieser aber nicht ausreichend, um den rasanten Negativtrend zu stoppen. Laut den Autoren wäre die Verschlechterung ohne Artenschutz in diesen gut untersuchte Tiergruppen insgesamt um ca 18% stärker ausgefallen. Was Herrn Pinker dazu treibt, diese Arbeit als Beleg dafür anzuführen, der Mensch hätte die gesamte Aussterberate um 75% reduziert, bleibt wohl sein Geheimnis.


undifferenzierte Sichtweise

Zwei Details des Berichtes lassen zudem aufhorchen. Die größten Effekte des Artenschutzes wurden beim Kampf gegen eingeschleppte Tierarten erzielt, z.B. wurden Katzen und Ratten auf unbewohnten Inseln ausgerottet. Davon profitierten insbesondere die Vögel. Den kleinsten Effekt hatte der Kampf gegen die Zerstörung von Lebensraum durch den Menschen (siehe auch 7,12). Hier zeigt eine äußerst unangenehme Schlüsselbotschaft der Ökologie: Unser Planet ist groß, aber dennoch in der Fläche begrenzt. Punkt.

Zurück zu Pinkers Quelle (4): Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die bisherigen Maßnahmen des Artenschutzes nicht völlig umsonst waren, dass sie aber in keiner Weise ausreichen, um die Aussterberate, die auch laut Stuart Pimm ein 1000-faches der „natürlichen“ Aussterberate beträgt (6), auch nur annähernd ausreichend abzusenken. Die Autoren setzen ihre Hoffnung dabei vor allem auf gesetzgeberische Maßnahmen.


irrelevante Quellen

Ein anderer Science-Artikel, den Herr Pinker als Quelle aufführt (7), quantifiziert den bisherigen Erfolg des Artenschutzes überhaupt nicht. Er ruft vielmehr zum tatkräftigen Optimismus und zur Hoffnung auf. Ohne Hoffnung gäbe es schließlich keinen Mut (und keine Fördermittel) und ohne Mut (und ohne Fördermittel) gäbe es keinen Erfolg. Der Artikel besagt aber auch, dass es extrem dumm wäre, die dramatischen Verschlechterungen, die vielerorts stattfinden, zugunsten eines Zweck-Optimismus zu ignorieren. Die Autoren beklagen, dass Politiker, die vernünftige Artenschutzmaßnahmen umsetzen wollen, unter Beschuss stehen. Herr Pinker nimmt an diesem Beschuss aktiv teil.


Schönreden einer üblen Perspektive

Ein genauerer Blick auf die Säugetiere ist äußerst aufschlussreich (5). Für den Zeitraum 1996 bis 2008 wurde gezeigt, dass 24 Säugetierarten Arten ihren Status verbessern konnten, 171 Säugetierarten sich aber verschlechtert haben. Für 146 Arten der Verlierergruppe waren ebenfalls Schutzmaßnahmen unternommen worden, die sich aber als erfolglos erwiesen oder allenfalls eine noch schlimmere Entwicklung verhindern konnten. Eine einfache Rechnung zeigt: für jede Art, die sich verbessert, verschlechtern sich über 7 andere Arten.

Es wäre interessant, wie Herr Pinker seine persönlichen wirtschaftliche Perspektive einschätzen würde, wenn er für jeden Dollar, den er gewinnt, 7 Dollar verlieren würde. Ich denke, er wäre unglücklich und würde entschlossen für eine Verbesserung seiner Aussichten kämpfen. Artenschützern scheint er einen solchen Kampf nicht zuzugestehen und bezeichnet sie als romantisch-destruktive Schwarzseher.


nochmals falsche Daten - frech...

Den Tiger, den Tasmanischen Teufel, den Condor, die Seekuh und die Albatrosse führt Herr Pinker frech und falsch als Beispiel für den erfolgreichen Artenschutz an. Laut IUCN (Rote Liste) sind sie dagegen kontinuierlich auf dem absteigenden Ast (Stand 6.10.2018).


ungenügende Grundkenntnisse

Zuletzt die seltsamste der Pinkerschen Aussagen zum Artensterben: Es gäbe “eine Reihe von Ökologen und Paläontologen“, welche die Befürchtung übertrieben fänden, dass die Menschheit ein Massensterben wie im Perm (vor 250 Millionen Jahren) oder in der Kreidezeit (vor 65 Millionen Jahren) verursacht. In der zugehörigen Fußnote 32 berichtet Pinker vom Paläontologen Douglas Erwin und argumentiert, dass ja „Massenaussterben unauffällige, aber weitverbreitete Weichtiere, Gliederfüßer und andere Wirbellose auslöschen, nicht aber die charismatischen Vögel und Säugetiere, die die Aufmerksamkeit von Journalisten erregen.“ Was in aller Welt will Pinker damit sagen?

Erwins Buch handelt vom Massensterben am Ende des Perm vor 250 Millionen Jahren. Da gab es weder Säugetiere noch Vögel. Deswegen konnte auch keiner von beiden aussterben. Beim Massensterben vor 65 Millionen Jahren starben immerhin die ziemlich charismatischen Dinosaurier fast vollständig aus. Der kümmerliche Rest der ehemals so stolzen Familie brauchte ein paar Millionen Jahre um zu neuer Vielfalt aufzublühen und heißt heute „Vögel“.

Es tut fast weh, wenn das gewichtigste aller Umwelt-Themen mit einer derart ahnungslosen Arroganz unter Verwendung falscher Aussagen abgehandelt und verharmlost wird. Herr Pinker scheint nicht all zu tief in´s Jahrmillionen-Thema Artensterben eingedrungen zu sein. Ihm fehlen die Grundkenntnisse. Er war froh, irgendetwas gut Klingendes im Guardian zu lesen. Diese Gefahr droht jedem Publizisten, der schon weiß, was er sagen will, bevor er überhaupt anfängt, sich mit einem Thema zu beschäftigen. Wäre Herr Pinker an der Realität genauso interessiert wie an seiner Schlüsselidee, so wären ihm diese peinlichen Fehler nicht unterlaufen.


Ökologische Kuznetkurve


verblendete Wünsche, die an der Realität zerbrechen

Herr Pinker behauptet (S. 164 der deutschen Ausgabe) reiche Länder wären umweltbewusster. Sie könnten sich z.B. mehr saubere Luft leisten. Die Technik würde dafür sorgen, dass Autos und Fabriken weniger Schadstoffe ausstoßen. Quellen nennt er hier nicht.

Schauen wir uns zunächst den Energieverbrauch der USA an im Zeitraum 1965 bis 2015 an. Der inländische pro-Kopf-Jahres-Verbrauch von Primärenergie ist in diesem Zeitraum von anfangs 6,4 Tonnen Öläquivalent auf 7,1 Tonnen Öläquivalent gestiegen (1,2). Da die Bevölkerung im selben Zeitraum um das 1,6-fache angestiegen ist, resultiert für das gesamte Land ein Anstieg des Verbrauchs von Primärenergie von 1287 auf 2272 Millionen Tonnen Öläquivalent.

Und niemand glaube, die Energieproduktion wäre merklich sauberer geworden. Die CO2-Produktion der USA ist im besprochenen Zeitraum von 3,6 Milliarden Tonnen auf 5,35 Milliarden Tonnen angestiegen (1). 

Doch dieser Anstieg ist längst nicht alles. In Zeiten, in denen das Handelsdefizit der USA in aller Munde ist, sollte jedem klar sein, dass die Produktion von Gütern, die in den USA verbraucht werden, zu großen Teilen nicht mehr in den USA stattfindet. Dementsprechend wird der Energieverbrauch und die CO2-Last dieser Güter in meist ärmere Länder verlagert. Sie müssen aus diesen Ländern zudem über lange Strecken in´s Zielland transportiert werden. Auch das führt zu erheblichen Emissionen und weiteren Problemen. Diese Zahlen sind den obigen noch hinzuzufügen (3).

Die Globalisierung spielt auch beim Artenschutz eine erheblich Rolle. Das dramatische Artensterben in Südostasien ist durchaus auch dem Verbraucherverhalten in Europa und den USA geschuldet (13). Vielleicht benötig Herr Pinker ein Exkurs in das Thema Globalisierung und Auslagerung von lästigen und problematischen Prozessen, um globale ökologische Herausforderungen besser zu verstehen. Wer davon redet, dass reiche Länder automatisch gut sind für die globale Umwelt, der ist hoffnungslos verblendet.


Erderwärmung


die nukleare Utopie des Steven Pinker

Nun zum zweiten großen Hauptthema: Wie will Steven Pinker das Problem der Erderwärmung lösen? Wie kommen wir weg von den fossilen Brennstoffen? Steven Pinker sieht hier den großen Moment einer nuklearen Renaissance. Der Heilbringer ist auf ewig die Kernkraft.

„… damit kommen wir einer Perpetuum-mobile-Maschine denkbar nahe, die in der Lage wäre, die Welt jahrtausendelang mit Energie zu versorgen.“


tatsächlich drängt die Zeit

Die Frage nach der Energiequelle der Zukunft ist durchaus berechtigt und absolut essentiell. Die Weichen müssen jetzt gestellt werden. Der Sonderbericht des Weltklimarates (10/2018) erhöht den Druck. Wir müssen bis zur Mitte dieses Jahrhundert die CO2 Emissionen von aktuell über 36 Milliarden Tonnen pro Jahr auf Null fahren, um das noch tolerable 1,5°C-Ziel zu erreichen. Auf der internationalen Bühne ist in naher Zukunft eine entsprechende Diskussion zu erwarten. Jedes Land, welches nicht in Schockstarre verfällt, wird mitreden wollen, ob wir auf regenerierbare Energiequellen oder auf die Kernkraft setzen. 


Das laute Hohelied der Kernenergie...

Steven Pinker singt das Hohelied der Kernenergie. Er singt es laut. Es erinnert an das berühmte Pfeifen im Walde. Seine Erzählungen umfassen unendliche Ressourcen (z.B Uran aus dem Meer), eine unproblematische, kostengünstige und menschenfreundliche Gewinnung der entsprechenden Rohstoffe incl. nuklearer Abrüstung („Waffen zu Pflugscharen“), den Abbau „lähmender behördlicher Hürden“, aber dennoch ein vollständiges und hundertprozentiges Maß an Sicherheit selbst in den Entwicklungsländern, denen die Kernenergie einen raschen, unkomplizierten und umweltfreundlichen Aufstieg ermöglichen soll. Kernkraftwerke befinden sich dann auf Tsunami-sicheren Lastschiffen vor den Küsten, die Entsorgung der des nuklearen Abfalls wäre kein Problem. Man solle die Kraftwerke am Ende ihres nützlichen Lebens einfach „abschleppen und stilllegen“. Sie könnten im Nebenschluss sogar Wasserstoff erzeugen, den saubersten aller Brennstoffe. Es bedürfe keiner lästigen zwischenstaatlichen Absprache mehr, jeder könnte in Ruhe sein eigenes nukleares Süppchen kochen. Wenn dann in spätestens 30 Jahren die Kernfusion als Energiequelle bereitsteht, sind ohnehin alle Probleme gelöst. Im Nebenschluss wäre der Wasserbedarf der Menschheit durch die dann quasi kostenlose Meerwasser-Entsalzung auf ewig gesichert. Diesen Weg schildert Steven Pinker als alternativlos, da regenerierbare Energien nie und nimmer den endlos wachsenden Energiehunger der Menschheit stillen könnten.


bodenloser Optimismus

Wem das alles zu einfach klingt, schaut nach, auf welche Untersuchungen sich der schier grenzenlose Optimismus des Herrn Pinker stützt. Ist mehr dahinter als nur der unbezwingbare Glaube an die Umsetzbarkeit einer schillernden Idee? Welche Quellen gibt Herr Pinker für seine unermessliche Zuversicht in die unproblematische Entsorgung nuklearer Abfälle an? Tatsächlich gar keine…? Und wer sagt, dass Kernfusion in spätestens 30 Jahren nutzbar sein wird? Oh - immerhin die Bloomerg News und die Time...

Ist das die wissenschaftliche Basis, auf der die CO2-getriebene Menschheit in´s große nukleare Abenteuer durchstarten will? Wer trägt die Risiken dieses gigantischen Start-up-Unternehmens? Ist ein tausendjähriges Energiereich tatsächlich realisierbar?

Wenn Ihnen irgendein Typ (und sei es ein Harvard-Professor) mit leuchtenden Augen erzählt, sie könnten mit ihm den Atlantik überqueren, auf seinem handgezimmerten Floß, sie müssten nicht mal Trinkwasser mitnehmen, weil ja eine Entsalzungsanlage an Bord sei - alles easy! Würden Sie seinen Optimismus teilen? Würden Sie mitfahren?


seriöse Alternativen

Als Ergänzung zu „Aufklärung jetzt“ empfehle ich eine Arbeit mit dem eher trockenen Titel „Sektorkopplung – Optionen für die nächste Phase der Energiewende“, ein Gemeinschaftswerk dreier deutscher wissenschaftlicher Dachorganisationen. Hier wird durchgerechnet, wie wir auch im dichtbesiedelten Deutschland die Paris-Ziele ohne Kernkraft (und ohne Verzicht) erreichen können. Es kostet ungefähr so viel wie die Deutsche Einheit. Natürlich brauchen wir mehr Windräder und mehr Stromleitungen. Natürlich wird es in Zukunft noch bessere Konzepte geben. Aber es geht. Man kann damit anfangen. Kernenergie ist nicht alternativlos. 


Allmachts-Phantasien und Alles-oder-Nichts-Spiele

Was dieses „biedere“ Konzept der regenerierbaren Energien allerdings nicht bedient: Allmachtsfantasien à la Page/Bezos/Zuckerberg/Musk/Pinker. Auch für Bill Gates, der „Enlightenment now“ als „Lieblingsbuch aller Zeiten“ bezeichnet, scheint es weitaus einfacher, die Energiefrage für die nächsten Jahrtausende zu regeln, als einen Impfstoff gegen HIV zu entwickeln. Wer also von ewiglich unbeschränkter Verfügbarkeit von Energie träumt, den können regenerierbare Energiequellen wohl eher nicht begeistern. Der amerikanische Energie-Traum kann keine Beschränkung ertragen. Doch der Ritt auf dem Uran-Fass ist letztlich ein Blindflug im unberechenbaren Weltenkarusell.


Bevölkerungsentwicklung


Entschärfung einer "Bombe" per Dekret

Letzter Punkt: Steven Pinker versucht am Anfang seines Umweltkapitels, die „Bevölkerungsbombe“ zu entschärfen. Er beschreibt korrekt, wie die rasanten Wachstumsraten der letzten wenigen Jahrhunderte zustande kamen (erniedrigte Sterberate) und kommt bei nun sinkenden Geburtsraten zu dem Schluss: „Dann (ab 2070) wird sich die Bevölkerung laut der Projektion auf einen Wert einpendeln und dann zurückgehen“


populistisches Verschweigen von Unsicherheiten

Er bezieht sich auf die Projektionen des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (WIC) und zeigt eine Grafik mit einem Höchststand von ca 9,5 Milliarden Menschen um das Jahr 2070 herum. Das ist beruhigend. 

Ein Wissenschaftler sollte aber immer den Unsicherheitsbereich seiner Daten angeben. Es gehört sich für einen Wissenschaftler nicht, mit einer solch populistischen Vehemenz aufzutreten wie Herr Pinker und sich gleichzeitig über die zugehörige Unsicherheit auszuschweigen. Neben dem WIC veröffentlicht auch die UN Prognosen für die Bevölkerungsentwicklung. Die aktuellen UN-Prognosen haben zudem Daten-Vorsprung von 7 Jahren auf die WIC-Prognosen. Sie sind aktueller. Die UN-Prognose sieht so aus:


die aktuelleren UN-Prognosen

Herr Pinker stellt in seinem Buch eine WIC-Prognose dar, die zwischen den untersten beiden Linien der aktuelleren UN-Prognose verläuft. Mit der gleichen Berechtigung hätte er aus UN-Sicht eine Kurve zeichnen können, die zwischen den obersten beiden Linien verläuft. Die wäre aber äußerst alamierend.... 


selektive Daten

Steven Pinker erwähnt zudem die stark rückläufigen Geburtenraten einiger sorgfältig auserwählter Länder. Diese Länder passen in sein Konzept. Er schweigt sich dagegen vornehm über die erschreckend hohe durchschnittliche afrikanische Geburtenrate von 4,7 Kinder pro Frau aus (2).


Außerachtlassung wesentlicher Unsicherheiten

Niemand weiß genau, was passieren wird. Sowohl WIC als auch UN bezeichnen die Migration als wesentlichen Unsicherheitsfaktor. Zudem ist der demographische Wandel ein Modell, dessen langfristige Gültigkeit sich erst noch in der Realität beweisen muss. Im Allgemeinen wird eine rückläufige Bevölkerung ja eher als nationale Bedrohung eingestuft. Die gesellschaftlichen und politischen Reaktionen darauf sind nicht wirklich vorhersehbar. All diese Unsicherheiten gehen in der "frohen Botschaft" Steven Pinkers vollständig unter.


Resumée


mehr Arroganz als Daten

Pinkers teils herablassender Tonfall gegenüber Andersdenkenden wird in keiner Weise durch überzeugende Daten legitimiert. Obwohl er selbst einen klassischen Glaubenssatz in´s Zentrum seines Umweltkapitels stellt, wirft er dem „Grünismus“ eine „quasireligiöse Ideologie“ vor. 


Utopien statt Lösungen

Die Überzeugung, dass künftige Probleme ohnehin gelöst werden, führt Steven Pinker in eine nukleare Utopie. Dies entspricht einer Ausflucht in den Glauben. Auch andere Religionen spenden Trost, indem sie eine bessere Welt in Aussicht stellen. Wesentliche Risiken (Altlasten, politischer Missbrauch) werden von Pinker ausgeblendet.


falsche und verzerrte Daten

Das groteske Bemühen, seinen Glaubenssatz mit Daten zu belegen, führt zu einer schweren Verletzung der wissenschaftlichen Sorgfaltspflicht. Pinker präsentiert falsche Daten. Andernorts verschweigt er wesentliche Unsicherheiten, um seine Meinung mit pseudowissenschaftlicher Autorität zu untermauern.


schädlicher Zweckoptimismus

Steven Pinkers Ansatz ist weder unvoreingenommen noch lösungsorientiert. Dementsprechend dient das Umweltkapitel seines Buches allenfalls der Verdrängung. Wir brauchen realistische Visionäre, um die aktuellen sozio-ökologischen Herausforderungen zu meistern.

Steven Pinker ist ein gläubiger Mensch.

Er ist sicherlich kein Wissenschaftler im Sinne der Aufklärung.

Hier klaffen sein Anspruch und die Wirklichkeit weit auseinander.

 

  1. www.bp.com/statisticalreview
  2. United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division 2017. World Population Prospects: The 2017 Revision
  3. Wiemann T: Environmental and social footprints of international trade. Nature Geoscience 2018; 11; S314
  4. The impact of conservation on the status of he world´s vertebrates. Science 2010; 330; S1503
  5. Hoffmann M: The changing fates oft he world´s mammals. Phil. Trans. R. Soc. B 2011 366, S2598
  6. Pimm S: How to protect half of Earth to ensure it protects sufficient biodiversity. Sci Adv 2018; 4: eaat2616
  7. Johnson C: Biodiversity losses and conservation responses in the Anthropocene. Science 2017; 356, S270
  8. Rockström J: A safe operating space for humanity. Nature 2009; 461; S472
  9. Steffen W: Planetary boundaries: Guiding human development development on a changing planet". Science 2015; 347; S736
  10. Rogeli J: "Paris Agreement Proposal Need a Boost to Keep warming well below 2°C". Nature 2016; 534; S631
  11. United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division (2017). World Population Prospects: The 2017 Revision, Methodology of the United Nations Population Estimates and Projections, Working Paper No. ESA/P/WP.250
  12. T Newbold: Global effects of land use on local terrestrial biodiversity. Nature 2015; 520; S45
  13. D Tilman: Future threats to biodiversity and pathways to their prevention. Nature 2017; 546; S73
  14. Barnosky AD: "Has the Earth´s sixth mass extinction already arrived?". Nature 2011; 471; S51

 

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