Das alttestamentarische anthropozentrische Weltbild hatte dem Menschen schon lange eine irdische Sonderrolle zugeordnet. Doch im Rahmen der Aufklärung strebte die Gesellschaft nach mehr Autonomie und weniger Transzendenz. Nicht durch göttliche Legitimation sondern aus eigener Kraft - durch Wissenschaft und Technik - sollte der Mensch die vollständige Kontrolle über natürliche Ressourcen und Prozesse erlangen. Der Abgrund einer gewaltigen Schlucht ließ den Menschen nicht länger vor Ehrfurcht erschaudern, sondern verleitet ihn zum Bau einer Brücke.
Die industrielle Revolution versprach schließlich, den versprochenen Fortschritt mithilfe fossiler Brennstoffe tatkräftig voran zu treiben. Der babylonische Turmbau wurde wieder aufgenommen. Der Jeddah Tower in Saudi-Arabien, der 2021 fertiggestellt werden soll, knackt jedenfalls schon mal die 1000-Meter-Grenze...
Zugleich wurden Persönlichkeitsrechte und Eigentum mehr und mehr in den Vordergrund der staatlichen Rechtsprechung gestellt. Daraus leitet sich das aktuelle Selbstverständnis moderner Gesellschaften ab. Der Anspruch auf einen stets zunehmenden und grundsätzlich unbegrenzten individuellen Wohlstand ist tief in unserem Herzen verankert.
Seit einiger Zeit wird dieses aufklärerische Versprechen in Frage gestellt. Es geht dabei weniger um technische Hindernisse bei der Realisierung neuer Entwicklungen als um unerwünschte Nebenwirkungen wie Artensterben und Erderwärmung. Es wird zunehmend vor einer Selbstüberschätzung des Menschen gewarnt. Diese Warnungen kommen allerdings nicht mehr aus der Kirche sondern direkt aus den Universitäten. Unser Gesamtsystem bekommt die äußerst unerwünschte Diagnose "Kontrollverlust" sowie die zugehörige zweifelhafte Prognose. Hochrangige Wissenschaftler fordern individuelle Mäßigung oder gar Verzicht. Was nun? Aus der Traum? Ende der Vorstellung?
Es lassen sich zwei grundsätzlich unterschiedliche Reaktionen auf die gegenwärtige prekäre Situation ausmachen.
Es gibt eine philosophische Strömung, deren Vertreter sich selbst als moderne Aufklärer sehen. Von außen betrachtet darf diese Strömung als radikal gelten. Ein prominenter Vertreter dieser Gruppe ist Steven Pinker, seines Zeichens Publizist und Psychologie-Professor an der Elite-Universität Harvard. Pinker ist ein geisteswissenschaftliches Schwergewicht und wurde schon unter die 100 bedeutsamsten Denker der Gegenwart verortet. Die "Schlüsselidee" im Umweltkapitel seines vielbachteten Buches "Aufklärung jetzt" (2018) verdeutlicht seine innere Mission:
"Umweltprobleme können, wie alle anderen Probleme auch, grundsätzlich gelöst werden, wenn wir über das dazu erforderliche Wissen verfügen."
Das klingt recht optimistisch. Doch was bedeutet es konkret?
In Pinkers Lösungsvorschlag für das CO2-Problem tritt das radikale Ur-Versprechen der Aufklärung zutage: die Ankündigung unendlicher Möglichkeiten. Denn Steven Pinker will die fossilen Brennstoffe in großem Stil durch die Kernkraft ersetzen. Er behauptet:
"... damit kommen wir einer Perpetuum-mobile-Maschine denkbar nahe, die in der Lage wäre, die Welt Jahrtausendelang mit Energie zu versorgen."
Hier manifestiert sich eine technologisch begründete und somit ideologietypische Allmachtsphantasie, welche den Amerikanischen Traum mit einer Art tausendjährigem Energiereich verknüpft. Problematische Fragen wie die Entsorgung von Altlasten oder der potentielle Missbrauch radioaktiver Substanzen werden ausgeblendet.
Diese radikale Form der Aufklärung erträgt keine irgendwie geartete Beschränkung. Forderungen nach einem Verzicht werden dementsprechend als menschenfeindlich gebrandmarkt und einem unzureichenden Kenntnisstand bzw. einem einfallslosen Pessimismus zugeschrieben.
Auch eine andere lösungsorientierte Strömung steht in der Tradition der Aufklärung. Diese Strömung baut ebenfalls auf technische Innovationen, sieht darin aber kein sicheres Allheilmittel gegen die Folgen der Maßlosigkeit. Das Schlüsselmerkmal dieser Strömung ist daher die grundsätzliche Bereitschaft, den Menschen ggf. Einschränkungen im Sinne des Gemeinwohls zuzumuten.
Doch wem genau können diese Einschränkungen auferlegt werden. Wer muss auf wieviel verzichten? Die unvermeidbare Gerechtigkeitsfrage ist der wunde Punkt der "konservativen" Aufklärer. Ihnen schlägt oft genug allgemeine Empörung entgegen, weil die Forderung nach Verzicht überall Verlustängste hervorruft. Die Gerechtigkeitsfrage wird von radikalen Aufklärern elegant umgangen. Das Versprechen unendlicher Möglichkeiten für alle enthält auch unendliche Möglichkeiten für den Einzelnen. Die Unendlichkeit ist schließlich unerschöpflich. Wieviel dem Großen und Ganzen auch entnommen wird - es bleibt immer etwas für die anderen übrig.
Die "konservativen" Aufklärer sind gegenüber der Kernkraft zurückhaltend. Sie wollen eine evtl. unumkehrbare Richtungsentscheidung angesichts unkalkulierbarer globaler Nebenwirkungen nicht voreilig treffen.