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Der domestizierte Mensch

Steffen Huck, seines Zeichens Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, singt in der ZEIT N°43 das Hohelied auf Algorithmen, die uns an die Hand nehmen und die uns durch die unüberschaubare Vielfalt einer globalisierten und vernetzten Welt führen.

Er wählt den Streamingdienst Spotify als Beispiel. Wie soll man als User die dort versammelten 50 Millionen Songs sortieren. Was gefällt mir, was gefällt mir nicht? Wie kann man in diesem riesigen Heuhaufen die Nadeln entdecken, die einem gefallen?

Ganz einfach: Man lässt sich von Spotify leiten. Denn Spotify kennt seine Pappenheimer. Spotify ist der kundige Freund, den man sich immer gewünscht hat. Ohne Mühe präsentiert es Herrn Huck jeden Montag eine Liste von 30 neuen Songs, und jeder ist ein Treffer! Selbst der Einwand, Spotify belasse seine Kunden in der jeweils eigenen Blase, ist mittlerweile einfach zu entkräften. Denn seit Kurzem bekommt Herr Huck ungewöhnliche Neuigkeiten aufgetischt, auf die er wohl nicht selbst gekommen wäre: fremdsprachige Songs, seltsame Einschlaflieder und antikapitalistischen Punk...

Obwohl Herrn Huck nicht alles gefällt, was ihm geschickt wurde, begeistert ihn dennoch die Tatsache, das Spotify ihn auf eine personalisierte Art und Weise in neue Musikwelten einführt - eben "wie ein Freund [...], der sich irre gut auskennt - wie ein persönlicher Kurator."

Herr Huck wünscht sich für uns alle mehr solche Freunde. Diese digitalen Berater sollen uns dabei helfen, die Auswahl zwischen unbekannten Produkten in vielen oder gar allen Lebensbereichen zu treffen. Niemand kann uns mehr etwas vormachen, weil wir ja einen verlässlichen Partner an unserer Seite haben, einen Freund, der weiß, was uns gefällt, und der sogar weiß, was wir gerne neu entdecken würden.


Die Zeit Rezension

Mich persönlich gruselt die Welt des Steffen Huck. Ich will zumindest nicht in dieser Welt leben.


Es scheint so, dass zumindest Herr Huck mehr künstliche Freunde braucht. Das sei ihm zugestanden. Er hat seinen persönlichen und zentralen Musik-"Kurator" in den Algorithmen (bzw. den Programmierern) der Spotify Technology S.A. gefunden. Er hat die dargebotene Hand ergriffen und lässt sich treu und ergeben durch die gnadenlos unüberschaubare digitale Musikwelt leiten. Er wünscht sich eine ähnlich starke, automatisierte Führung auch in anderen komplexen Lebensbereichen.

Aber die Traumwelt des Herrn Huck - er mag es mir verzeihen - erinnert mich stark an die behagliche Zufriedenheit eines gut versorgten Haustiers. Herrchen (oder Frauchen) weiß, was gut ist für mich. Ab und zu bringen sie mir was Neues. Ich bekomme alles frei Haus. Ohne Anstrengung. Ohne Freiheit. 


So weit so gut. Herr Huck sollte aus seinen eigenen Präferenzen aber nicht ableiten, das WIR mehr künstliche Freunde brauchen. In diesem etwas provokativen "Wir" fühle ich mich zumindest nicht eingeschlossen - und daher gewissermaßen ausgeschlossen.


Es gibt einiges, was ich mag, und was es nicht gibt bei Spotify & Co:

  • Ich mag menschliche Kontakte - in vielen Bereichen Mangelware.
  • Ich mag Vielfalt - auch bei Freunden und Kuratoren.
  • Ich mag Originalität - welche ein Algorithmus allenfalls vortäuschen kann.
  • Ich mag analoge Musik - auch wenn diese in Corona-Zeiten zu verwelken droht.
  • Ich mag Details - die wertvoller sein können als die klebrige Masse von 50 Millionen Songs.

Abseits der persönlichen Vorlieben kann man auch auf Systemebene Kritik an Herrn Huck´s Traumwelt üben. Spotify ist ein kommerzielles Unternehmen, dessen oberstes Ziel auf Dauer nur eine gute Rendite sein kann. Spotify sortiert nach dieser Maxime von zentraler Stelle aus einen riesigen Markt - zwar nicht die ganze Welt der Musik, aber doch das, was viele dafür halten. Aber damit nicht genug. Herr Huck will offensichtlich auch andere Bereiche der Künste und des sozialen Lebens durch ähnlich zentralistische, kommerziell orientierte Systeme dominiert wissen.

Herr Huck wünscht sich zudem, dass diese zentral positionierten Unternehmen über ein Psychogramm von Ihm (bzw. von UNS) verfügen, welches absolute Berechenbarkeit erlaubt. Er ist einverstanden damit, dass eine Bedienungsanleitung von Ihm selbst (bzw. von UNS allen) erstellt wird. Er glaubt tatsächlich, dass er (bzw. WIR) von einer solchen Situation "profitieren". 

Wie bereits gesagt - mich gruselt der Huck´sche Traum. Denn Herr Huck träumt letztlich von wenigen großen Playern, die nicht nur unsere Welt, sondern auch unsere Seelen ordnen. Er träumt von einer Kombination aus realer, bedingungsloser Unterordnung und maximaler, wenngleich nur illusionärer Souveränität.


Herr Huck träumt vom domestizierten Menschen.


Persönlich vermisse ich Spotify in keiner Weise. Es wäre mir sehr unangenehm, jeden Montag eine automatisierte Analyse meiner Person in Form einer Liste von 30 Songs abarbeiten zu müssen. 

Abseits der emotionalen Ablehnung einer solchen Bevormundung und Fremdsteuerung betrachte ich aber auch Vielfalt und dezentrale Systeme als unverzichtbare Garanten für Stabilität und als essentielle Voraussetzungen für nachhaltigen Fortschritt. 

Die Zeit Rezension


rezensierter Text:

Wir brauchen mehr künstliche Freunde!

Steffen Huck

die ZEIT N°43, 15.10.2020, Seite 41

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