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Hilfsarbeiter gegen Akademiker?



In großen Zahlen präsentiert uns Anna Mayr in "Die Angreifbaren" (ZEIT N°49) folgendes Dilemma:


40

von 100.000

Hilfsarbeitern in

Großbritannien starben bis

zum Sommer an Corona

12

von 100.000

Akademikern in

Großbritannien starben bis

zum Sommer an Corona


Der Unterschied ist deutlich. Eine mögliche Erklärung wird gleich mitgeliefert. In Kurzform erzählt Frau Mayr folgende Geschichte: 

Im Winter brachten reiche Touristen das neue Virus SARS-CoV-2 aus den Skigebieten der Alpen nach ganz Europa. In ihrer jeweiligen Heimat übergaben Sie das Virus an die Armen und zogen sich zurück - in ihre privaten Gemächer.

In den einkommensschwachen Schichten breitete sich das Virus rasant aus. Denn die beengten Wohnverhältnisse dieser Menschen erlauben keine Isolierung. Auch im Arbeitsumfeld sind arme Menschen nicht ausreichend geschützt. Sie sind auf öffentliche, oft überfüllte Verkehrsmittel angewiesen. Zudem sind die Armen anfälliger und steckten sich auch unter ansonsten gleichen Bedingungen häufiger an. Warum? Frau Mayr präsentiert die "Gründe hinter den Gründen":

Der drohende Verlust des Arbeitsplatzes und andere existentiellen Ängste verursachen Dauerstress. Dieser führt nicht nur zu ungesunden Lebensweisen. Er schwächt auch direkt das Immunsystem und macht die Armen anfälliger für eine Infektion und im Weiteren für einen schweren Krankheitsverlauf. 

Aus "all diesen Erkenntnissen" leitet Anna Mayr ab, das Gesundheit "ungerecht verteilt" ist.



Wer - wie Frau Anna Mayr - nicht nur über eine ungleiche, sondern auch über eine ungerechte Verteilung des Corona-Todes spricht, wirft automatisch die Schuldfrage auf. Und wenn es Opfer gibt, so muss es auch Täter geben. Wer sind diese Täter? Auf wen soll man wütend sein? Auf die Akademiker?

einkommens-unabhängige Faktoren

Frau Mayr widmet sich ausschließlich den Risikofaktoren, welche vom Einkommen abhängig sind. Alles andere wird vollständig ausgeblendet. Frau Mayr zeichnet letztlich ein einseitiges Zerrbild des tatsächlichen Geschehens.

Mitentscheidend für das persönliche Infektionsrisiko und auch für die Wahrscheinlichkeit, andere anzustecken, ist das Problembewusstsein. Jeder Mensch könnte sich - völlig unabhängig von seinem Einkommen - fragen (lassen):

Wie viele freiwillige Kontakte habe ich? Halte ich grundsätzlich einen sicheren Abstand ein, wenn dies möglich ist? Fordere ich andere dazu auf, ebenfalls Abstand zu halten? Trage ich konsequent eine Maske, wenn der Abstand nicht sicher eingehalten werden kann? Fordere ich in diesen Situationen auch andere dazu auf, eine Maske zu tragen? Welche Art von Maske trage ich? Eine Community-Maske? Einen medizinischen Mund-Nasen-Schutz? Eine FFP-2-Maske? Sitzt die Maske ab und zu mehr oder weniger absichtlich unter der Nase? Weise ich andere auf eine entsprechende Schieflag hin?

Die Frage nach Opfer und Täter kann gefährlich sein

Mit der Frage nach der Gerechtigkeit zückt Frau Mayr eine scharfe Waffe. Doch der Schuss könnte nach hinten losgehen.

Denn wenn schon von "Gerechtigkeit" gesprochen werden soll, müssen Hilfsarbeiter und Akademiker in allen relevanten Punkten miteinander verglichen werden.

Wer hat mehr freiwillige Kontakte? Wer hält mehr Abstand ein? Wer trägt konsequenter eine Maske? Wer verursacht letztlich mehr vermeidbare Ansteckungen? 

Wenn Frau Mayr zu dem Schluss kommt, das Akademiker weniger Problembewusstsein aufweisen, dass sie in vergleichbaren Situationen nachlässiger mit den AHA-Regeln umgehen, dass sie somit mehr zur Ausbreitung der Pandemie beitragen, dann darf Frau Mayr die Hilfsarbeiter weiterhin als schuldlose Opfer eines ungerechten Systems darstellen. 

Wenn nicht, dann sollte sie sich davor hüten, einzelne Gruppen unserer Gesellschaft gegeneinander auszuspielen.

Man könnte sich statt dessen fragen, warum viele Menschen nicht glauben wollen, was Experten ihnen empfehlen. Wo sind hier die "Gründe hinter den Gründen"? Wie kann man erreichen, dass Menschen sich wirklich schützen wollen? Denn dadurch - welch willkommener Nebeneffekt - schützen sie auch andere Menschen und das gesamte System. 



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